Mikromimik: Der geschulte Blick von Zwillingen
- Annika Viktoria Ritter
- 22. Feb. 2024
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. Juli 2024
Ein kurzer Blick genügt und Julia kann die Mimik ihres Zwillingsbruders lesen und entschlüsseln. Auch Benjamin bestätigt, dass er durch die grosse Nähe zu einem Menschen auch bei anderen Menschen zu einem Mimik-Experten geworden ist.
Ich bin eineiiger Zwilling und als Wir mit einem 3D-Spiegel auf die Welt gekommen. Die Twinterviews bestätigen und objektivieren meine Selbsterforschung meiner Twin Perspective.
In diesem Twinterview spreche ich mit Julia und Benjamin Krajnik aus Berlin. Sie sind zweieiige Zwillinge, damals 18 Jahre alt, haben gerade ihr Abitur gemacht und überlegen, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen.
Sie erzählen mir, dass ihre Beziehung von Empathie und Rücksicht geprägt ist und wie wichtig diese Kriterien sind, um auf engstem Raum miteinander auszukommen.
Was wir von einem geschwisterlichen Zwillingspaar über Unterschiede und Gleichwertigkeit lernen können
1. Ohne Neid kein Streit!
Julia und Benjamin haben sich bis zum Grundschulalter kaum gestritten, sagt ihre Mutter. Im Interview gehen wir dieser Frage nach.
Julia findet es heute selbst sehr interessant und kann sich das nur so erklären, dass der Ausbruch von Streit eher auf das Umfeld zurückzuführen ist, in dem man aufwächst. Sie hätten sich als Kinder sehr nahe gestanden und kaum Neid empfunden. Sie fragen sich auch, ob es etwas mit der Erziehung zu tun haben könnte, wenn man sehr eifersüchtig auf sein Geschwisterkind ist. Julia erklärt, dass sie genau wüsste, wo dieser Punkt wäre, wann Streit ausbricht, deshalb falle es ihr leicht, nicht zu streiten.
Benjamin erläutert, dass sie sich im Kindergarten schon ein paar Mal gestritten hätten, aber in einem Ausmass, dass es kaum erwähnenswert sei. Im Kindergarten hätten sie noch so viel Zeit miteinander verbracht und ihre Freundesgruppe wäre viel gemischter gewesen. Jungs und Mädchen hätten einfach miteinander gespielt.
Die grösseren Streitereien wären erst in der Grundschule gekommen. Da hätten die anderen Kinder es einem vorgemacht. Benjamin hätte dann eher mit den Jungs gespielt und Julia mit den Mädchen. Nicht nur, dass es dann so einen grundsätzlichen Streit zwischen Jungen und Mädchen gegeben hätte, sondern es wären einfach unterschiedliche Einflüsse gekommen, die zu mehr Streit geführt hätten.
Julia erinnert sich, dass sie ab einem gewissen Alter ihre Individualität und Unabhängigkeit ausleben wollten. Wenn z.B. die Freundinnen von Julia sagten, dass die Jungs blöd sind, waren sie nicht mehr so loyal zueinander, weil sie ihre Verbundenheit auch ausserhalb ihrer Komfortzone mit anderen Menschen finden wollten.
2. Genderneutrale Spiele: für Zwillinge völlig normal.
Auf meine Frage nach gemeinsamen Spielen erzählt Benjamin begeistert von „Little Pet Shop“ - kleine Spielzeugtiere, welche sie beide von ihrer Tante geschenkt bekommen hatten und eher für Mädchen war. Niemand hätte ihnen beigebracht, dass das nur für Mädchen interessant sein könnte. Deshalb war es gleich. Als sie klein waren, spielten sie viel zusammen und schufen sich ein kleines Spieluniversum mit Geschichten, einem Kuscheltier Rat und sogar einer selbst geschriebenen Zeitung. Es gab kaum eine Trennung zwischen Mädchen- und Jungenspielen, sie interessierten sich einfach für die gleichen Dinge.
Erst in der Grundschule hätte sich das ein wenig geändert. Sie glauben beide, dass das am Anfang vor allem durch äussere Einflüsse kam. Es sei nicht unbedingt so, dass Mädchen intuitiv nur Rosa mögen würden. Benjamin erzählt, dass seine Freunde irgendwann nur noch mit Lego gespielt hätten, das habe auf ihn abgefärbt. Julia bestätigt, dass sich irgendwann unterschiedliche Interessen entwickelt haben.
Es sei eine Mischung aus inneren und äusseren Umständen. Und sie erzählen auch, dass sie vielleicht auch gerade, um sich zu differenzieren, etwas gesucht haben, was sie unterscheidet. Benjamin hat sich auf jeden Fall mehr für Computerspiele interessiert und Julia hat z.B. mehr gemalt.
3. Vergleichen führt zu Konkurrenzkampf
In der Schule hatten beide unterschiedliche Freundesgruppen. Julia war mit Mädchen zusammen, Benjamin mit Jungen. Dadurch haben sich beide auf natürliche Art und Weise abgegrenzt.
Julia erzählt, dass sie in einem Umfeld war, in dem Noten wichtig waren und sie sehr ehrgeizig wurde. Sie lächelt und berichtet, dass sie in der ersten Reihe sass. Benjamin hingegen hat wie seine Klassenkameraden die Schule als weniger streng empfunden.
Benjamin glaubt, dass sie aufgrund ihrer unterschiedlichen Interessen nicht so sehr in den Wettbewerb gekommen wären. Ihm war es ziemlich egal, ob Julia besser in der Schule war. Und Julia war es nicht wichtig, dass er besser im Sport war. Wären sie aber in eine vergleichbare Situation gekommen, z.B. eine gleichzeitige Prüfung, wäre es Benjamin wichtig gewesen, zumindest besser als Julia zu sein.
Julia merkt an, dass es schon eine andere Situation ist, wenn man unterschiedliche Noten mit nach Hause bringt und die Eltern auch direkt vergleichen können, weil man gleich alt ist. Dann wäre es schon vorgekommen, dass man sich für eine schlechtere Note hätte rechtfertigen müssen. Benjamin ist der Meinung, dass das Vergleichen und Rechtfertigen bei Einzelkindern weniger ausgeprägt wäre.
4. Mikromimik: Der geschulte Blick der Zwillinge
Julia erzählte mir bereits im Vorgespräch, dass ihr aufgefallen sei, dass sie bei ihrem Bruder an feinsten Veränderungen im Gesicht, der sogenannten Mikromimik, erkennen könne, wie es Benjamin geht. In Stresssituationen würde sie sofort sehen, wie sich sein Gesicht nach einem Wort oder Satz verändert und wüsste sofort, was in ihm vorgeht. Sie würde nicht auf einzelne Gesichtszüge schauen, sondern ihr Kopf würde das automatisch in Bedeutungen umwandeln. Und er hätte dann bestätigt, was sie bereits wusste.
Auch Benjamin findet es ganz normal, zu wissen, wie es Julia geht, weil sie eben mehr Zeit miteinander verbracht haben als andere Menschen. Als Zwillinge hätten sie nicht nur unter einem Dach gelebt und sich täglich gesehen, sondern sie seien auch gleichaltrig, hätten die gleichen Interessen, die gleichen Freunde und hätten sich 18 Jahre lang ein Zimmer geteilt. Sie hätten mehr Zeit miteinander verbracht als mit ihren Eltern.
Benjamin glaubt schon, dass es etwas mit einem Menschen macht, wenn man von Anfang an immer einen Spiegel dabei hat und erfährt, wie eine Handlung zu einer veränderten Wirkung führt. Man würde sich ständig reflektieren und Erfahrungen abspeichern, so dass der Geist bestimmte Reaktionen eines anderen Menschen auf die eigene Handlung gespeichert hätte. Julia achtet nicht nur auf die Mimik, sondern auch auf Gestik, Sprache und Tonfall. Sie findet es sehr interessant, dass dieser Aspekt bei uns dreien ähnlich ausgeprägt ist.
5. Zwillingsgeschwister: Mehr Zeit zusammen geht nicht!
Als Zwillinge ist man immer zusammen, nicht nur die 9 Monate im Mutterleib, sondern meistens auch als Baby, Kleinkind, Jugendlicher und junger Erwachsener. Weil man gleich alt ist, macht man alles zusammen und bespasst sich gegenseitig.
Benjamin meint, dass er sich deshalb schon vorstellen kann, dass man als Einzelkind oft allein ist und sich selbst unterhalten musst. Weil du als Zwilling ähnliche Interessen hast, hast du gemeinsame Erlebnisse und tauscht dich die ganze Zeit darüber aus.
Es wird dir selten langweilig. Es ist und bleibt vielleicht sogar dein ganzes Leben lang die Person, mit der du die meiste Zeit deines Lebens verbracht hast. Deshalb hast du automatisch eine sehr enge Bindung.
Und es wäre wohl auch ganz natürlich, dass man durch diese enge Verbindung seinen Zwilling so gut deuten kann, dass man automatisch gelernt hat, sich in die andere Person hineinzuversetzen, Verhaltensmuster zu lesen und zu deuten. Ihre Rücksichtnahme aufeinander und auf andere Menschen wäre im Vergleich schon ausgeprägter als im Freundeskreis.
Die beiden erzählen, dass sie zwei viel ältere Brüder hätten. Der eine sei 15, der andere 17 Jahre älter.
„Wenn man jemanden im gleichen Alter hat, dann kann man sich auf Augenhöhe unterhalten, wenn ein so grosser Altersunterschied wie bei ihren Brüdern dazwischen läge, würde man anders miteinander kommunizieren. Ihre Brüder hätten eher so eine Art Respekts Position“.
Es wäre schon ganz anders, wenn die Geschwister schon fast erwachsen wären, wenn man noch ein kleines Kind ist. Sie würden sich alle sehr mögen und viel zusammen unternehmen, aber der Altersunterschied würde Distanz schaffen.
6. Der ausgeprägte Gerechtigkeitssinn der Zwillinge
Mich interessiert, ob auch Julia und Benjamin diesen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn für das Teilen in sich tragen.
„Oh ja, als wir jünger waren, hat man sofort gesehen, wenn einer übervorteilt wurde“, sagt Benjamin.
Da wären sie schon aneinandergeraten, meint Benjamin. Wenn einer weniger bekommen hätte, wäre dahinter die Frage gestanden, wer wie viel wert ist.
Der Gerechtigkeitssinn sei so sehr früh geprägt worden.
„Das war schon ein bisschen kindisch“, lacht Julia.
Wenn es Süssigkeiten zu teilen gab, konnte keiner etwas abschneiden, ohne vom anderen beobachtet zu werden.
Heute geht es weniger um das Materielle, sondern um das gerechte Teilen als Wert in anderen Aspekten und Zusammenhängen ihres Lebens. Für Julia ist es wichtig, dass alle gerecht behandelt werden. Neben dem Einfühlungsvermögen wäre der Gerechtigkeitssinn bei Ihnen wahrscheinlich stärker ausgeprägt als bei Einlingen.
7. Die Rücksicht gegenüber anderen sei immer im Hinterkopf
Zum Schluss frage ich Julia und Benjamin, was Einlinge von ihnen und anderen Zwillingen lernen können.
"Wenn man Zwilling ist, lernt man, mit einer anderen Person auf engstem Raum auszukommen und alles irgendwie zu verteilen, auch zum Beispiel im Haushalt.» erzählt Benjamin.
Beide Seiten würden ihre Arbeit machen und wüssten, wie wichtig es sei, dabei fair zu sein. Und man hätte auch gelernt, wie man sich zusammenreissen kann und wie man andere davon abhält, sich einfach zu ärgern. Man wüsste, wie man mit jemandem redet und ihn anspricht.
Julia bestätigt, dass sie auf Klassenfahrten, wenn sie als Gruppe für etwas verantwortlich waren immer darauf geachtet hat, dass niemand ausgenutzt wird. Bei einigen Kindern sei ihr aufgefallen, dass sie weniger rücksichtsvoll waren oder nicht teilen konnten. Das wären dann Einzelkinder gewesen. Es wäre sicher nicht immer so gewesen, aber es wäre ihr aufgefallen. Sie meinen, dass man als Zwilling nicht weniger tun will als der andere.
Julia möchte vermitteln, dass es ihrer Meinung nach für alle Menschen und für die Welt so wichtig ist, sich in andere hineinzuversetzen, um eine gewisse Verbundenheit und Mitgefühl zu entwickeln. Das sollte man trainieren und mit Freunden darüber reden. Aber vor allem aus dem eigenen Herzen heraus immer wieder Rücksicht nehmen.
Twin-Tipp: für Empathie und Wahrnehmungsschulung
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Schritt 1: Gehe in einen meditativen Zustand, um einen möglichst neutralen und bewussten Zustand zu erreichen. Wenn du wenig Übung hast, benutze Hilfsmittel, die es dir leicht machen. Zum Beispiel eine Kerzenmeditation: Stelle eine Kerze vor dich und schaue in die Flamme - versuche nicht zu blinzeln. Werde, sei die Kerze. |
Schritt 2: Partnerübung Seifenblase. Stelle dir vor, du sitzt mit einer Partner*in in einer Seifenblase. Ihr seid in der Seifenblase verbunden und von dort aus fängst du intuitiv an, das auszusprechen, was du an Gefühlen wahrnimmst. Beispiele für Themen Was hast du am Wochenende gemacht? Wie hast du dich in der Grundschule gefühlt? Was war dein/e Lieblingslehrer*in... usw. |
Schritt 3: Objektiviere zusammen mit deinem Partner*in deine Wahrnehmung, indem dein Gegenüber klar und deutlich mit Ja oder Nein auf deine wahrgenommenen Aussagen reagiert. Wenn ein Nein kommt, achte darauf, ob du interpretierst oder dein Gefühl beschreibst. Es hilft, deine Wahrnehmung zu objektivieren, wenn du bei einem Nein, bei dem du dir unsicher bist, das Gefühl noch einmal beschreibst. Von dort aus kannst du der Wahrheit auf den Grund gehen. Die Ebene der Gefühle ist die Ebene der Wahrheit. Tipp: Gänsehaut ist ein deutliches Zeichen für «Wahrhaftigkeit». |
Schritt 4: Der Austausch hilft, die Wahrnehmung zu schulen und Glaubenssätze oder falsch verankerte Gefühle von wahren Gefühlen zu unterscheiden. |
Blick in den 3D-Spiegel: Emotionen deuten lernen!
Ich bin 25 Jahre älter als Julia und Benjamin. Ich erinnere mich, dass wir schon als Mädchen die Trennung zwischen Jungen und Mädchen deutlich spürten. So deutlich, dass wir die «Bauecke» im Kindergarten nicht besuchten, weil die Jungs alles zerstörten, wenn wir etwas bauten. Lego spielen war nur zu Hause möglich.
Wir Mädchen haben uns zwar über die Jungs lustig gemacht und fanden sie sehr doof, aber die Trennung war schon da. Ich glaube, hier hat sich schon etwas zum Positiven verändert, und das macht mich froh. Denn was man bei zweieiigen Zwillings Geschwistern sehen kann, ist, dass wir natürlich unterschiedliche Interessen haben, aber dass sich vieles durch die äusseren sozialen und gesellschaftlichen Systeme verändert.
Was mir auch aufgefallen ist, dass Julia und Benjamin kaum diese negativen Aspekte mitbringen, die ich sonst von mir und auch von anderen Zwillingen kenne. Sie streiten und konkurrieren viel weniger und sind weniger eifersüchtig aufeinander. Und sie schätzen sich in ihrer Individualität. Ich habe das Eindruck, dass die gemeinsame Entwicklung zu mehr Einfühlungsvermögen und gegenseitigem Verständnis in der Gruppe geführt hat.
Und genau das deckt sich auch mit einer Zwillingsstudie über die Beziehungstypen, die sich zwischen eineiigen, zweieiigen Zwillingen und zweieiigen Zwillingsgeschwistern deutlich unterscheiden. Zweieiige Zwillingsgeschwistern haben die schönste Form des Zwillingsdaseins gewählt, weil sie zwar sehr nahe sind, aber automatisch weniger durch die körperliche Situation verglichen werden, sich viel schneller ihrer selbst bewusst werden und viel leichter ihr eigenes individuelles Leben in der Verbindung gestalten können.
Und doch kommt es natürlich auch auf die eigene Seele und auf das, was einem von den Eltern vorgelebt wird, an.
Fällt es dir schwer, dich von einem anderen Menschen «abzugrenzen» und deine Gefühle von denen eines anderen Menschen zu unterscheiden?
Oder du findest es schwierig, die Gefühle einer anderen Person zu deuten.
Beides sind gegensätzliche Positionen und hängen doch miteinander zusammen. Das Training der Spiegelneuronen und die Objektivierung der Wahrnehmung.
Buche jetzt ein Coaching zusammen mit deiner*m Partner*in und lerne deine Wahrnehmung zu objektivieren.
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